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Der Schleizer Schülersingchor und der Heimatlose

18.02.2024

´s ist ein stiller Sonntagmorgen. Auf der Agnesstraße schlurft ein in hohlklingendem, wenig sonntäglich ausschauendem Schuhwerke ein von der Herberge oder „Mutter Grün“ kommender ergrauter Ritter von der Landstraße gemächlich dahin. Plötzlich hemmt er seine Schritte. Eine frohe Schar von etwa vierzig buntbemützten Schülern im Alter von neun bis neunzehn Jahren marschiert flink heran und nimmt etwa vor der damaligen Weiskerschen Hofkonditorei im Halbkreise Aufstellung. Es ist der Schülersingchor. Der Präfekt in weißer Schülermütze winkt zur Ruhe und gibt einen Ton an, das mittlere Fis.- „Wenn ich den Wandrer frage: Wo kommst du her? Von Hause, von Hause, spricht er und seufzt schwer“, erklang es unmittelbar darauf aus den hellen, jugendfrischen Kehlen. Auf die Frage nach dem Wohin? antwortet bekanntlich in der zweiten Strophe heiter und zufrieden der Landmann: „Nach Hause“. Wo sein Glück blüht, will der Dichter vom Freund wissen. „Zu Hause, spricht er mit frohem Blick.“ Zuletzt erzählt der Dichter, man habe ihn selbst gefragt: „Was quält dich sehr?“. Seine Antwort ist: „Ich kann nicht nach Hause, hab´ keine Heimat mehr.“ Dem seltsamen Gesellen im zerschlissenen Gewand, der dem Gesange vom Anfang bis zum Ende andächtig gefolgt war, waren offenbar die letzten Sätze schwer aufs Gemüt gefallen. Gesenkten Hauptes stapft er weiter und bog um die Leichenrings Ecke. Der damalige Kantor, der aus einiger Entfernung seine Sänger kontrolliert und auch den alten Wanderbursch beobachtet hatte, ging ihm unauffällig nach und sah, wie dieser an der Hauswand lehnte, sein arg verbrauchtes Schnäuztüchlein aus der Tasche holte und lange damit beschäftigt war, die Zähren aus seinem verwitterten Angesichte und seinem verwilderten, struppigen Barte zu wischen. Vielleicht war er rechtschaffener Leute Kind gewesen, hatte der Heimat frühzeitig den Rücken gekehrt, die Lust zur Arbeit und damit den Boden unter den Füßen verloren, war in schlechte Gesellschaft geraten, von Stufe zu Stufe gesunken. Nun ist er ein alter verachteter Vagabund, kann nicht nach Hause, ist ein bemitleidenswerter Heimatloser…       Lggpl.                                   

 

Gefunden im Stadtarchiv Schleiz im „Reußischen Erzähler“ 1925 von Ingo Möckel

abrufbar unter: 

dana.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/dana_derivate_00015591/Stadtarchiv_Schleiz_4129.tif